Messiaen-Modi
Diskussion mit Lutz Felbick


Lutz Felbick:
Hallo Herr Kollege Prey,
endlich noch mal ein Artikel über Gehörbildung in der Musiktheorie. Freue mich, dass Sie sich für Messiaen engagiert haben, insbesondere Ihre homepage bietet eine Fülle von Informationen zu den Modi.
Ihre Einschätzung zur Musik des 20. Jahrhunderts in der Gehörbildungsliteratur ist nach meiner Ansicht nur für einige der ohnehin wenigen deutschen Lehrwerke zutreffend. Franz Josef Stoiber und (noch überzeugender) Jean-Clément Jollet haben recht brauchbare Gehörbildungskonzepte für die Musik Messiaens entwickelt. Außerdem ist die zeitgenössische Musik in der englisch- und französischsprachigen Gehörbildungsliteratur (z.B. M. Labrousse, D. Bowman, P. Terry u.a.) didaktisch insgesamt recht gut behandelt, abgesehen von einigen guten Ansätzen auch in der deutschsprachigen Literatur (H. Haas/E. Karkoschka bzw. die Fülle von Literatur zum Thema Höranalyse). Sie schreiben, dass es nicht darum geht, "andere didaktische Ansätze zu widerlegen, sondern darum, sie zu ergänzen." Ich erlaube mir, mit Ihnen in Diskussion zu treten, denn ich finde Ihre Systematik etwas zu starr und Ihre Ergänzung widerspricht dem, was ich von meiner Lehrerin Almut Rößler über Messiaens Ästhetik gelernt habe.
Die Musik Messiaens versucht - nach allem was ich davon kenne - immer wieder, die durch den menschlichen Geist, insbesondere auch die durch das eigene System, gesetzten Grenzen zu sprengen. Typisch ist dafür das Einfügen fremder Elemente in das System, z.B. durch modusfremde Töne. Ebenso wie es kaum Kompositionen in C-Dur gibt, die nicht auch mal einen chromatischen Ton anklingen lassen - und trotzdem als Tonalität C-Dur analysiert werden muss - so würde es meiner Meinung nach ein verfälschtes Bild ergeben, Messiaens Modi in ein so enges Raster zwingen zu wollen. Z.B. steht das "Toujours vif" aus La Nativité IX, S. 3 im 2. Modus, 3. Transposition. In der Mitte des Systems benutzt Messiaen dann die Töne "b" und "e", die ich kompositorisch als Durchgangstöne bewerte und mit Ihrer Systematik als Viertonchromatik der Blick für den schon bei der Exposition dieses Themas vorgestellten 2. Modus verstellen würden.
Mich hatte Ihre Anfangsbemerkung "Sie wird eher auf abstrakte Übungen reduziert" zu den Strategien der Gehörbildung neugierig gemacht . Aber sind nicht gerade Ihre Übungen im Internet sehr abstrakt? Ihr Artikel kündigt eine "entscheidende Hilfe für das Hören" und damit einen neuen Weg in der Gehörbildung an, den ich aber noch nicht erkennen kann, denn im Mittelpunkt steht das "System der irrreduziblen Ausschlußkonstellationen", also eine primär nicht auf auditivem Wege zu erfassende Methode.
Bitte verstehen Sie meine Anmerkungen nicht als Besserwisserei, denn das von Ihnen beschriebene Problem der Gehörbildung mit Musik des 20. Jahrhunderts ist tatsächlich nicht leicht zu lösen. Vielleicht habe ich Ihren Ansatz auch missverstanden, dann wäre ich dankbar für eine Klärung.
Mit freundlichen Grüßen
Lutz Felbick
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Stefan Prey:
Lieber Herr Felbick,
vielen Dank für Ihre umfangreiche und gehaltvolle Stellungnahme. Ich empfinde sie als ernst gemeinten Diskussionsbeitrag und nicht als Besserwisserei. Inhaltlich ist alles ja überprüfbar, und der Ton ist sachlich.
Meine Einschätzung des Umgangs mit der Musik des 20. Jahrhunderts im Gehörbildungsunterricht beruht - das sehen Sie richtig - nicht auf der Kenntnis der entsprechenden Literatur, sondern auf informellen Kontakten. Und da habe ich in der Tat den Eindruck, dass häufig Unsicherheit besteht, wie man mit der Musik des 20. Jahrhunderts gerade im Gehörbildungsunterricht sinnvoll umgehen kann. Hier danke ich Ihnen für Ihre Hinweise.
Was abstrakte Übungen betrifft, so ist meine Formulierung wohl missverständlich. Grundsätzlich habe ich nichts dagegen. Nur wenn sie die Begegnung mit der Musik ersetzen statt erleichtern, lehne ich sie ab. Die Übungen zur Modusbestimmung wurden mit einem Computerprogramm konstruiert und sind in der Tat völlig abstrakt. Sie sind aber auch nicht direkt für die Gehörbildung oder die Analyse konzipiert, sondern nur als Trainingsaufgaben, die es erleichtern sollen, in Messiaens Modi denken. Ich selbst hatte nämlich beim Versuch, Messiaen zu analysieren, ständig das bedrückende Gefühl, dass ich viel zu viel Zeit brauche, die Modi zu erkennen, ganz anders als ich das von Dur- und Molltonleitern gewohnt war. Im Gehörbildungsunterricht habe ich immer Literaturbeispiele benutzt. Die Hilfe besteht also in der Auswahl der Beispiele und in einer Hilfe für das Denken, doch ohne das Denken kommt das Hören ja häufig nicht weit.
Offenbar hatten Sie den Eindruck, dass ich mit der Formulierung "entscheidende Hilfe für das Hören" mehr verspreche als ich halte. Es tut mir leid, dass ich Sie da enttäuscht habe, aber eine solche "entscheidende Hilfe" für das Hören habe ich gar nicht angekündigt, sondern nur vermisst. Inwieweit mein Beitrag hier eine Lücke schließt oder wenigstens verkleinert, weiß ich nicht. Nur haben mir selbst meine Überlegungen den Zugang zu Messiaen erleichtert und sie haben mich ermutigt, Messiaen auch im Gehörbildungsunterricht zu behandeln.
Ihre Analyse von "Toujours vif" aus La Nativité IX, S. 3, überzeugt mich. Ich kann jedoch nicht erkennen, wieso dies ein Gegenargument gegen meine Vorgehensweise sein soll. Eine Abweichung von einem Muster kann doch nur erkennen, wer das Vorliegen eines Musters erkennen kann. Und nur zum Training dieser Fähigkeit dienen meine Übungsblätter. Wer Regeln so starr anwendet, dass er auch bei geringfügigen Abweichungen überhaupt keine Regelhaftigkeit mehr erkennt, macht sicher einen Fehler. Ob er das jedoch ohne meine Hilfe oder mit meiner Hilfe tut, ändert nichts. Wenn ich Sie nun recht verstehe, sind Sie besorgt, meine Herangehensweise würde solche Fehler begünstigen. Dies lässt sich jedoch in der Unterrichtssituation vermutlich ganz gut vermeiden. Man muss nur auf die Möglichkeit solcher Irregularitäten hingeweisen, etwa durch das von Ihnen genannte Beispiel. Dies würde ich jedoch erst tun, wenn die Studierenden schon genügend Erfahrungen mit Messiaen haben. Denn gerade zu Anfang können ja auch kleine Abweichungen vom System erheblich verunsichern.
Mit freundlichen Grüßen
Stefan Prey
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Lutz Felbick:
Lieber Herr Prey,
schön, dass wir das Mißverständnis klären konnten. Jetzt zeigt sich, dass es keine Kontroverse zwischen uns gibt. Ich freue mich auch, dass Sie mein Bemühen um einen sachlichen Ton gesehen haben.
Mit freundlichen Grüßen
Lutz Felbick
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www.stefanprey.de